Lieber Opa,
viel Zeit hatten wir wahrlich nicht miteinander. Ich war noch viel zu klein, als du uns verlassen musstest. Du hattest dein ganzes Leben im Bergbau gearbeitet und hattest die typische Bergmannskrankheit, die dich schließlich in die Knie zwang.
Niemals habe ich dich klagen hören. Wie oft habe ich auf deinen Knien gesessen und du hast mit deinem alten, schon ganz dünn geschliffenen Taschenmesser deinen Apfel mit mir geteilt.
Ich schreibe dir heute, an diesem besonderen Tag, weil ich dir sagen will, wie sehr du unsere Familie geprägt hast. Dafür danke ich dir von ganzem Herzen.

Es hilft mir sehr, wenn ich mich frage, wie du in manchen Situationen heute entschieden hättest oder was du mir raten würdest. Es ist nicht alles in Ordnung in unserem Land. Manches macht mir große Sorgen. Viel zu oft klingt es heute wieder so ähnlich wie zu „deiner“ Zeit.
Du hast dich immer für das eingesetzt, was du für richtig und gleichwohl für gerecht hieltest. Für den Achtstundentag hast du gekämpft und auch für Frauenwahlrecht, für eine ordentliche Schulbildung und Gesundheitsschutz für alle. Du hast gestreikt und warst danach im Knast, weil du die Streikbrecher verhauen hast.
In der Zeit des Kapp-Putsches bist du mit anderen nach Zeitz gelaufen und hast den Bübchen in der Kaserne die Waffen weggenommen. Und später, im Zweiten Weltkrieg, hast du den Kriegsgefangenen im Tagebau Kleidung und Essen neben die Schienen gelegt. Und Zettel, auf denen du fein säuberlich den Frontverlauf notiert hast, damit die durchhielten, die jeden Tag ohne ordentliche Kleidung und Essen, im Tagebau schuften mussten. Wenn alle in den Luftschutzbunker saßen, hocktest du mit deinem Radio unter dem Federbett und hörtest Radio London und Radio Moskau.
Sowohl deinen Mut als auch deinen Humor hast du nie verloren, in den Zeiten der Novemberrevolution nicht, in zwei Kriegen nicht, während der Weltwirtschaftskrisen nicht und auch nicht im ganz dunklen Kapitel der Geschichte, der Nazizeit. Nein, es lief nicht alles so, wie du es dir vorgestellt hattest und wofür du dich immer eingesetzt hast. Und trotzdem hast du nie die Hände in den Schoß gelegt und aufgegeben.
Wie soll sich denn etwas ändern, wenn keiner etwas tut, hast du immer gesagt. Während der ganz finsteren Zeit hast du einen Mensch-ärgere-dich- nicht-Club gegründet und organisiert. Nein, keinen Skatclub, wiewohl in der Altenburger Gegend eher zu vermuten gewesen wäre. „Helden“ spielen kein Mensch-ärgere- dich- nicht, hast du gesagt und folglich hattet ihr eure Ruhe, um euch abzusprechen.
Ich war noch zu klein, um deine Geschichte aus deinem Munde zu hören. Meine Mutter, deine Tochter, hat mir deswegen viel von dir erzählt. Vielleicht hättest du auch gar nichts erzählt, denn du hieltest alles, was du getan hast, für selbstverständlich, für nichts Besonderes. Ich habe mit meinen Kindern über dich gesprochen. Du, lieber Opa, hast unsere Familie geprägt wie niemand sonst.
Lieber Opa, heute ist der 9. November, der Tag der Erinnerung an die Reichsprogromnacht, als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, jüdische Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Geschäfte durch die SA zerstört wurden. Es war der Anfang von unsagbaren Leid, was Mitmenschen zugefügt wurde. Du hättest gewollt, lieber Opa, dass ich meinen Kindern auch davon erzähle und ich habe es getan. Nie wieder darf so etwas passieren. Und nie will ich Ähnliches schweigend hinnehmen. Das bin ich auch dir schuldig.
Der Beitrag Lieber Opa, … ein Brief am 9. November an meinen Großvater. erschien zuerst auf Spinnradgeschichten.