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Channel: Gudrun, Autor bei Spinnradgeschichten
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In einer Vorlesung aufgeschnappt: Wie aus dem ‚bruoder‘ der Bruder wurde oder auch nicht.

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durch die Vorlesung inspiriert, gezeichnete Schreibstube
Es saß da einer und schrieb auf Pergament.

ik gihorta dat seggen – Ich hörte (glaubwürdig) berichten. In der Vorlesung.

Zur Vorlesung gestern bin ich extra eher erschienen. Diesmal war der Hörsaal zwar voll belegt, aber keiner saß auf dem Fußboden oder stand vor der Tür. Mal sehen, wie weit sich die Reihen bis zum Semesterende lichten.

Da ich keine Seminare besuche und auch keine Textübungen mitmache, hat mir in der Vorlesung ganz schön der Kopf geraucht. Es war viel diesmal und ich schätze es wird noch haariger. Also werde ich mir Zeit nehmen und nacharbeiten. Ich möchte nicht einfach das Konstrukt unserer Sprache kennen und beschreiben, ich möchte wissen wie es entstand. So erklärt sich mir einiges, was ich immer für regelwidrig oder sinnlos hielt. Alles werde ich mir bestimmt nicht merken, ich muss ja auch keine Prüfung machen.

Wen interessiert das denn?

Als ich in jungen Jahren an der Pädagogischen Hochschule zu arbeiten begann, schimpften die Studenten in der Pause, dass sie etwas lernen mussten, was sie gar nicht wissen wollten. „Tinte, frühmittelalterlich tincta ( von aqua tincta ‚gefärbtes Wasser‘). Mann! Wen interessiert denn das?“ Mich. Ich fand das spannend, aber ich hatte mich damals mit anderem herumzuschlagen. Jetzt, nach so vielen Jahren, begegnete die „tincta“ mir wieder.

Es entwickelte sich also ein Sprachraum und keiner sagte: „So, das ist jetzt unserer. Wir sind jetzt eine „Einheit“ und schützen sie, damit nichts anderes durchdringt. Wir dulden keine fremden Einflüsse, weil es diese Einheit wieder zerstören würde und uns abschafft.“ Und weil das keiner sagte, gab es im Mittelalter bereits jede Menge Lehnwörter, wie eben die tincta z.B. oder das Wort für dichten, ahd. dihton ’schreiben‘ von ‚dictare‘. Ich finde es gut, wenn sich Sprache entwickeln darf.

Manches Begriffliche habe ich noch nie gehört.

In der Vorlesung tauchten Begriffe auf, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, Frühneuhochdeutsche Monophthongierung z.B. Nein, nein, ich halte jetzt keinen Vortrag, aber genau an der Stelle in der Vorlesung musste ich an die Freidenkerin denken.
Warum?
Bei der Monophthongierung veränderten sich die gesprochenen Laute von zwei Vokalen hin zu einem Langezogenen, ein Unterscheidungsmerkmal übrigens des Mittelhochdeutschen vom Althochdeutschen. Aus ‚uo‘ wurde ein langgesprochenes ‚u‘, aus guot wurde gut und aus dem bruoder der Bruder. Mancherorts scheint der Prozess allerdings nicht abgeschlossen.
Liebe Freidenkerin, du schreibst herrliche, kleine Geschichten in Mundart und ich werde in Zukunft noch viel mehr Freude haben, sie zu lesen.
Den Begriff vergesse ich nie wieder, glaube ich.

Ich freue mich auf die Vorlesung in der nächsten Woche. Heute lege die Bücher weg und den Zeichenstift auch. Schluss, aus, Wochenende.

 

 

 

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